Geschichte

Ein aufmerksamer Tierfreund hat beim Aufräumen einige Seiten eines alten Buches gefunden. Darin war auch die Geschichte „Der stumme Kläger“ von Martin Greif zu finden. Die schöne Geschichte ist zwar nicht aus unserer Zeit, in der „Zeit gleich Geld“ ist und die Pferde und Esel oft nur solange einen Wert besitzen, wie sie einsatztauglich sind und siegen. Möge diese Geschichte allen denjenigen Reitern (hoffentlich seltenen Reitern) in Erinnerung rufen, dass das Pferd oder der Esel ein Kamerad und nicht nur ein Sportgerät ist, und nach getaner Arbeit auch ein Anrecht hat, seinen wohlverdienten Lebensabend in aller Ruhe und möglichst sorgenfrei zu geniessen.

Der stumme Kläger

Zu Zürich auf dem markte hielt Kaiser Karl Gericht,
Ob arm, ob reich der Kläger, bekümmerte ihn nicht,
Auch war ihm keine Frage und kein Verhör zur Last,
Nur um die Mittagsstunde genoss er kurze Rast.

Doch um nicht aufzuhalten auch dann des Rechtes Lauf,
Liess er vor seinem Hause eine Säule richten auf
Und drauf ein Glöcklein setzen mit einem Strang daran,
Dass, wer sein Recht begehret, sich bei ihm melden kann.

Einst war’s zur Mittagsstunde, da ging das Glöcklein schrill,
Der Kaiser befiehlt zu schauen, wer zu ihm Einlass will.
Doch da das bittende Läuten noch immer dauert an,
So tritt er selbst zur Türe. Was hinkte da heran?

Eine herrenlose Mähre, die dort am Strange riss,
Indes sie, gequält von Hunger, den hänfenen Strick zerbiss.
Wohl war sie abgemagert, vor Alter lahm und blind,
Doch dass von Zucht sie edel, erriet der Held geschwind.

Sein Herz war tief betroffen von solchem seltnen Fall,
Er liess den Kläger führen in seinen eigenen Stall
Und liess ihm Hafer reichen, so viel er zehren wollt’,
Und liess ihm Streu bereiten, dass sanft er ruhen sollt’.

Und wieder nach drei Tagen, da zu Gericht er sass,
Mit seinen strengen Blicken er einen Ritter mass:
„Ihr hattet ein mutig Streitross dereinst vor manchem Jahr,
Das, wie ich weiss, euch mehrmals gerettet aus grosser Gefahr.

Dass ihr von ihm euch trenntet, unglaublich schien es schier;
Sagt an, wohin gekommen ist doch das edle Tier?“
Der Ritter starrt’ und stockte, vor Scham und Schrecken bleich,
Da sprach im Zorn der Kaiser: „Euer Schweigen verurteilt euch“.

„Dies wackere Tier voll Treue, das allen Dankes wert,
Hat gegen seinen Herrn sich laut bei mir beschwert,
Dass er es hart verstossen in seines Alters Pein,
Dass er ihm nicht gelassen sein Brot, wenn noch so klein.“

„Und da ich erkannt die Klage als wahr und als gerecht,
Säum’ ich nicht zu erhärten vor Edelmann und Knecht,
Dass ich das Recht zu schirmen von Gott die Macht gewann.
Ich entkleid’ euch eurer Würde und send euch in den Bann.“

„Von eurem Rittergute bestimm’ ich znächst den Ertrag
Zu eures Rosses Pflege bis an den letzten Tag;
Was übrig, wird alljährlich als milde Gabe verteilt –
Ihr habt die letzte Stunde an meinem Hofe verweil.“

Martin Greif