AMOUR, der Kämpfer
Tagebuch einer Rettungsaktion
Donnerstag, 8. Dezember 2016
Haben wir alles dabei? Decken, Halfter, Stricke? Das Navi, Handy mit Telefonnummer des Veterinäramtes? Sicherheitshalber, man weiss ja nie was einem bei einer solchen Aktion erwartet.
Türen zu, es kann losgehen. Silvia fährt. Es geht mit dem Transporter auf die A81 Richtung Stuttgart. Die schöne Landschaft des Hegau fliegt an uns vorbei. Blauer Himmel, der gefrorene Tau auf Bäumen und Büschen lässt die Welt wie im Märchen erscheinen.
Weniger märchenhaft ist der Grund, wieso wir heute unterwegs sind und noch eine lange Strecke vor uns haben. Fotos, die uns eine aufmerksame Eselfreundin zugeschickt hatte, zeigten zwei verwahrloste Esel, auf Spaltenböden gehalten, ohne Einstreu. Bei einem Tier sah man deutlich massiv ausgefranste Hufe vom Gehen auf den Spaltenböden. Die Fotos wurden auf einem Landgasthof gemacht, wo man, laut Webseite, eine Eselzucht betreibt. Die Haltung von Equiden auf Spaltenböden ist klar tierschutzwidrig. Für eine Meldung an das zuständige Veterinäramt waren die Fotos aber zu wenig aussagekräftig, ev. nur eine Momentaufnahme einer kurzfristigen Situation.
So bat ich Walter, der in dieser Gegend zu Hause ist, auf den Landgasthof zu gehen und ein paar weitere Fotos zu machen, die die Situation der Esel noch ausführlicher aufzeigen. Die Fotos, die er mir daraufhin schickte, waren schockierend. Sie zeigten zwei, bis zum Skelett abgemagerte Esel. Diesmal waren sie draussen. Der Eine, das helle Tier, auf einer kleinen Weide, inmitten von landwirtschaftlichen Maschinen. Da waren Schwadenrechen mit auf Augenhöhe herausstehenden, spitzen Metallteilen. Ein Mähwerk mit scharfen Messern usw. Alles gefährliche Verletzungsfallen. Ein Foto zeigte auch bereits eine, vermutlich tiefe, Wunde über dem rechten Auge. Der andere Esel, ein dunkles Tier, befand sich in einem Hirschgehege. Unglaublich! Hirschbullen sind unberechenbar und gefährlich. Und dieser Esel war den Attacken des Platzhirsches schutzlos ausgeliefert. Kam dazu, dass der Esel kaum mehr Fell hatte, sichtlich fror und offensichtlich völlig erschöpft war.
Mir war sofort klar, hier geht es um Leben und Tod. Ich schickte die aussagekräftigsten Fotos ans Veterinäramt, um auch gleich telefonisch die Dringlichkeit dieses Falles zu unterstreichen und deutlich darauf hinzuweisen, dass wir die beiden Esel sofort abholen und sie in unserer Station in Welschingen pflegen würden. Der zuständige Veterinär versicherte mir, sich der Sache anzunehmen. Das beruhigte mich nicht wirklich, denn diese Aussage höre ich immer, und oft geht dann doch nichts. Aber in diesem Fall hatte ich mich geirrt. Zwei Tage später rief Herr A., der Besitzer der Esel, an. Er würde die Esel frei geben, wir könnten sie abholen. Glücklicherweise sagte Silvia sofort zu, zu fahren. So waren wir am nächsten Morgen unterwegs ins Frankenland.
Wir kommen gut voran. Auf der Höhe Stuttgart wenig Stau, zähflüssiger Verkehr. Auf der Gegenfahrban kilometerlange Staus. Glück gehabt. Nach fünf Stunden fahrt, kurz vor dem Ziel, Tankstopp. Zeit, um ein Brötchen zu essen und etwas zu trinken – und immer die bange Frage im Nacken: Was erwartet uns?
Das Ziel ist erreicht. Wir fahren auf den Hof. Dieser ist völlig verwahrlost. Alles ist vollgestellt mit Müll. Inmitten von vor sich hinrostenden Maschinen steht ein alter Pferdetransporter. Darauf der kaum noch lesbare Schriftzug “Achtung Turnieresel“. Wild gestikulierend rennt uns Herr A. entgegen. Wir sollten ihm auf die andere Seite des Hofes folgen. Da angelangt, stehen ein paar Wohnwagen auf einer Wiese. Mitten in der Wiese steht der helle Esel. Nirgendwo sind Zäune. Er steht einfach nur da, mit gesenktem Kopf. Er erscheint mir völlig orientierungslos. Die Wiesen sind gefroren, kein Hälmchen Gras ist mehr vorhanden. Ich gehe auf ihn zu, strecke ihm ein Leckerli entgegen. Er hebt den Kopf, nimmt gierig das Leckerli um gleich in Panik einen Satz zur Seite zu machen, als er sieht, dass der Besitzer kommt. Herr A packt ihn am Kopf, Silvia streift dem ängstlichen Tier das Halfter über. Er folgt uns willig zum Transporter. Eine junge Frau steigt aus einem der Wohnwagen. Sie sagt: “Was, der geht, jetzt wo ich mich an ihn gewöhnt habe?“ Ich bin fassungslos über so viel Unwissen und frage sie: Sehen Sie denn nicht, dass dieser Esel am Verhungern ist? Die Frau schaut mich irritiert an und geht weg. Das schwache Eselchen ist schnell verladen und so fragen wir nach dem anderen, dem dunklen Tier. Herr A. meint, den hätte er gestern Abend noch einschläfern lassen. Silvia und ich sehen uns nur an, und schütteln den Kopf. Was soll man dazu sagen? Wir sind uns sicher, dass der Esel letzte Nacht gestorben sein muss. Denn der Besitzer wollte ja noch € 75.- pro Tier. Dann hätte er bestimmt nicht noch Geld in die Hand genommen für die Euthanasie des Esels. Zudem waren weder Pässe noch sonstige Papiere da. Herr A. konnte uns nicht mal das ungefähre Alter des Esel sagen. Er meinte nur, die Esel seien ihm aufgeschwatzt worden, er hätte sie nie gewollt.
Herr A. ist nicht unfreundlich. Im Gegenteil. Er lädt uns zum Essen im Restaurant ein. Das lehnen wir dankend ab. Nur weg von hier! Und das Eselchen steht ja schon im Transporter.
Wieder auf der Autobahn. Viel Verkehr, doch wir kommen gut voran. Aber dann, im Raum Leonberg, Stau. Wir stehen vor einem geschlossenen Tunnel. Ein Unfall. Sirenen heulen, der Rettungswagen rast an uns vorbei. Nichts geht mehr. Warten. Der kleine Passagier hinten im Transporter knabbert Stroh. Er hat keinen Namen. Genügend Zeit, einen schönen Namen auszusuchen. Wir fangen bei „A“ an: Andy, Arthus, Amigo, Amur, oder Amour? Amour heisst „Liebe“. Wieso nicht? Liebe hat dieses Geschöpf wohl noch nie in seinem Leben erhalten. Das wird sich jetzt ändern!
Endlich zuhause. Es ist schon dunkel. Wir strecken unsere eingerosteten Glieder und führen Amour nach unten in den Quarantänestall. Da ist schon alles vorbereitet. Eine ganz dicke Schicht Stroh, das beste Heu und die Tränke ist temperiert. Amour beginnt gleich, Heu zu knabbern. Wir schauen ihm eine Weile zu. Er lässt sich von nichts ablenken, scheint zufrieden zu sein. Müde verlassen wir den Stall.
Freitag, 9.Dezember 2016
Am Morgen liegt Amour flach auf dem Boden. Im Liegen knabbert er Heu. Wir lassen ihn liegen. Der gestrige Transport war auch für ihn sehr anstrengend gewesen. Nach zwei Stunden liegt er immer noch. Da stimmt etwas nicht! Fieber messen! Amour hat gerade noch 34 Grad Körpertemperatur. Sofort wird der Tierarzt bestellt. Miriam
und Tina tragen sämtliche warmen Decken zusammen. Sonja holt eine Wärmflasche. Der Doktor kommt. Er misst eine Herzfrequenz von 120 (normal ist um 40). Der Darm scheint nicht mehr, oder nur wenig, zu funktionieren. Das Patientchen bekommt drei Spritzen. Eine krampflösende, eine entzündungshemmende und eine mit etwas Cortison. Er liegt jetzt unter fünf Decken auf einer ganz dicken Strohschicht. Amours Augen haben keinen Glanz mehr. Sein Leben hängt an einem dünnen Faden. Kämpf um Dein Leben, Eselchen!
Wir können im Moment nichts machen, ausser abwarten. Die Frauen wechseln sich ab. Alle vier Stunden muss Amour auf die andere Seite gedreht werden, damit seine Muskeln keinen Schaden nehmen. Die Nacht wird entscheiden, ob er überlebt.
Samstag, 10. Dezember 2016
Entgegen unseren Befürchtungen hat Amour die Nacht überlebt. Seine Körpertemperatur ist auf 36 Grad angestiegen. Er knabbert Heu im Liegen. Miriam bietet ihm ein warmes Mash an und die Frauen heben ihn in „Sitzstellung“. Gierig schlabbert Amour das Futter weg. Ein gutes Zeichen. Er verbleibt aus eigener Kraft in der Stellung und knabbert weiterhin am Heu. Auch das immer wieder angebotene, warme Wasser trinkt er in vollen Zügen. Zwischendurch strampelt er mit seinen Beinen, macht Anstalten aufzustehen. Es gelingt ihm nicht, er ist viel zu schwach. Die Frauen versuchen ihn aufzustellen, auch das gelingt nicht, seine Beine sacken zusammen. Doch in Amours Augen ist Glanz, und in seinem Körper ist Spannung. Er will leben!
Sonntag, 11. Dezember 2016
Amour liegt wieder flach. Seine Körpertemperatur ist auf normale 37 Grad gestiegen. Es scheint ihm wieder schlechter zu gehen. Nochmals kommt der Doktor, nochmals Spritzen.
Montag, 12. Dezember 2016
Nun hat Amour leichtes Fieber, er bekommt Antibiotika. Er ist deutlich munterer als gestern. Frisst Heu, noch immer im Liegen. Er wird ganz aufgeregt, als er das Mash riecht. Das hat er im Nu verputzt. Immer wieder versucht das Eselchen aufzustehen. Strampelt so das Stroh unter seinen Beinen weg.
Dienstag, 13. Dezember 2016
Amour ist recht munter. Beobachtet, nimmt an der Umgebung teil. Immer wieder versucht er aufzustehen. Nimmt seine ganze Kraft zusammen, kommt halb hoch, um dann erschöpft ins Stroh zurückzufallen. Dabei strampelt er das Stroh unter seinen Beinen und seinem Körper weg. Die Gelenke sind schon etwas aufgescheuert, die Sitzbeinhöcker ebenfalls. Da das Eselchen fast kein Fell mehr hat, ist die Haut da völlig ungeschützt. Amour muss auf die Beine kommen. Egal wie. Ansonsten werden wir ihn verlieren, da bin ich mir sicher. Es nützt nichts, wenn wir ihn aufstellen und er gleich wieder zusammensackt. Ein Entlastungsnetz, das wäre die Lösung!
Ich rufe Ruedi Keller vom Schweizerischen Grosstierrettungsdienst an. Zuerst ist er skeptisch. Er meint, es könne nur funktionieren, wenn der Esel genügend Kraft hat, selbstständig auf den Beinen zu stehen. Ansonsten würde das Netz mehr schaden als nützen. Doch er ist bereit, sofort mit einem passenden Netz zu kommen.
Nach einer knappen Stunde ist er da. Nun gilt es erstmal den Esel nach oben in den Stall zu bringen, wo die Krankenbox mit der Aufhängevorrichtung ist. Glücklicherweise ist Helmut auch gleich gekommen, und die beiden Männer packen den liegenden Esel ins Netz. Das Netz hängen sie an einen dicken Holzpfosten, den sie über dir Schulter nehmen. Silvia ist mit dem Transporter vorgefahren. Die Männer steigen mit Amour in den Transporter und Silvia fährt vor den Stall. Beim runtersteigen von der Rampe lässt Amour sich tragen, doch in der Stallgasse angekommen streckt der Esel seine Beine und steht sicher auf dem Boden. Etwas staksig, aber doch sicher geht Amour selbstständig in die vorbereitete Box. Das Netz wird in den Haken der „Laufkatze“ eingehängt und in die richtige Höhe gebracht. So kann das Patientchen frei stehen und etwas gehen. Wenn Amour müde ist, kann er sich ins Netz fallen lassen und sich so ausruhen. Damit er genügend Wärme erhält, wird er mit zwei Decken warm eingedeckt und eine Wärmelampe installiert.
Mittwoch, 14. Dezember 2016
Amour hat die Nacht im Netz gut überstanden. Er ist recht munter und möchte herumgehen. Im Netz ist er sehr eingeschränkt. Daher nehmen wir ihn aus dem Netz und, siehe da, ganz neugierig läuft er in der Box herum und beschnuppert sein neues Zuhause. Mit grossem Appetit fängt er an zu fressen. Irgendwann wird er müde und legt sich wieder hin. Selbst aufstehen kann er doch noch nicht, und so lassen wir ihn zwei bis drei Stunden liegen, um ihm danach wieder auf die Beine zu helfen. Das Langohr geniesst es sichtlich, laufen zu können. So packen wir ihn für die kommende Nacht nicht ins Netz, damit er mehr Freiheit hat.
Donnerstag, 15. Dezember 2016
Am Morgen liegt Amour wieder flach. Wir stellen ihn auf, wobei der Esel kräftig mithilft. Er geht herum, ist munter und an seiner Umgebung interessiert. Er hat nun genügend Kraft, einen halben Tag zu stehen und zu gehen, ohne dass er sich hinlegen muss. Das Netz braucht er jetzt nicht mehr.
Samstag, 24. Dezember 2016
Heute kommt Amour das erste Mal aus der Box heraus. Er geht in der Stallgasse herum, schaut sich, noch etwas aus der Ferne, seine Mitbewohner an. Danach macht er sich an die Heuballe heran, zupft die besten Kräuter heraus. Amour kann nun selbstständig aufstehen. Schon ist es ihm in seiner Box zu langweilig. Er bekommt eine andere Box, wo er am Betrieb im Stall besser teilnehmen kann. Noch immer ist er spindeldürr, aber er hat viel mehr Kraft. Seine Wunden sind abgeheilt. Seine Augen strahlen.
Willkommen im Leben, tapferer, kleiner Esel!
(c) Erna Schmid
Amour im Mai 2017